Screenings als Wertanlage?
Nur eine gewagte Metapher für den Spitzensport oder Usus für alle Leistungsklassen? Fest steht: Jeder der Leistungssport betreibt, steht nicht nur im Wettbewerb um den Sieg, sondern ficht auch den Kampf gegen die eigenen körperlichen Grenzen. Die regelmäßige Durchführung von Baseline-Screenings mittels sportmotorischer Testungen an den unteren Extremitäten liefert vor diesem Hintergrund den medizinischen und sportlichen Betreuern wertvolle Informationen, um diese Grenzen zu verschieben und Athleten eine erfolgreiche sportliche Entwicklung zu ermöglichen (1). Fehlt wiederum eine Screening-Historie oder sollen interindividuelle Leistungsvergleiche angestellt werden, sind Referenzwerte eine wertvolle Quelle für die Einordnung von sportmotorischen Kennzahlen.
Im pt-Titelbeitrag “Trainingsprofi im Schuh” vom Dezember 2022 wurde anhand von Fallbeispielen bereits ausführlich diskutiert, wie mobil einsetzbare Sensorsohlen zur biomechanischen Analyse von Bewegungen verwendet werden können, um objektive Kennzahlen für sportmotorische Testungen zu erhalten (2, Vid-1). Für die Athletenbetreuung eröffnen sich dadurch verschiedene Anwendungsbereiche. In initialen Baseline-Screenings können neue Leistungspotenziale aufgedeckt werden (3). Durch die Integration von Tests im Sinne von Pre-Injury-Screenings (PRE) besteht außerdem die Chance, Verletzungsrisiken frühzeitig zu erkennen (4). Schließlich können funktionale Defizite im Bewegungsapparat nach Verletzungen zuverlässig ermittelt werden und stehen den Physiotherapeuten unmittelbar zur Verfügung (5). Für alle Anwendungsbereiche gilt, dass durch die objektiven Messdaten und Re-Tests eine evidenzbasierte Ableitung von Interventionen und die gezielte Steuerung der Belastung möglich wird. Die fundierte medizinische und sportwissenschaftliche Kompetenz der Betreuer bleibt freilich genauso Voraussetzung für eine zielführende Interpretation von Messdaten wie die Erfüllung wichtiger Gütekriterien durch die Messtechnik.
Eine möglichst lückenlose Historie von Kennzahlen aus Baseline-Screenings zu grundlegenden sportlichen Leistungsmerkmalen wie Stabilität, Reaktivkraft oder Agilität kann für die Athleten jedenfalls, im Wortsinne, Gold wert sein.
Spannungsfelder im Fokus Nachwuchsleistungssport
Der folgende Artikel thematisiert vor diesem Hintergrund, wie speziell der Bereich Nachwuchsleistungssport mit neuen, flexibel und kosteneffizient einsetzbaren Messmethoden besser betreut werden kann und welchen Wert allgemein zugängliche Vergleichswerte für die Sportpraxis haben können. Dazu gibt der Artikel erste Einblicke in die Ergebnisse aus einem laufenden Forschungsprojekt.
Folgt man den Beiträgen von Sportärzten, Trainern und Physiotherapeuten auf einschlägigen Kongressen von Institutionen wie der GOTS, der Athletiktrainer-Konferenz oder des OS Institutes, so herrscht im Nachwuchsleistungssport noch besonders großer Aufholbedarf bei der Objektivierung und Dokumentation von Trainingsdaten generell. Der Großteil der in der Praxis tatsächlich angewandten Methoden im Nachwuchsbereich betrifft bisher kardiovaskuläre Aspekte im Rahmen sportmedizinischer Untersuchungen, wie z.B. Leistungs-EKG in Verbindung mit Messungen des Laktatwerts. Die Möglichkeiten zum kontinuierlichen Einsatz professioneller biomechanischer Testmethoden aus dem Spitzensport sind aufgrund enger finanzieller Grenzen und aufgrund der großen Komplexität der Systeme bisher sehr eingeschränkt. Gleichwohl werden im Nachwuchsbereich die Grundlagen für die erfolgreichen Sportstars der Zukunft gelegt. Es lohnt sich also, genau hier anzusetzen.
Zur Relevanz von Referenzdaten
Geht man also im Allgemeinen von der bis dato noch lückenhaften Datenlage bezüglich Baseline- Screenings im Vereins- und Individualsport aus, so bieten frei verfügbare Referenzwerte einen wertvollen Startpunkt für die Bewertung von individuellen Athletenleistungen. Die folgenden drei Fallbeispiele spiegeln typische Situationen im Nachwuchsleistungssport wider. Der Ergebnisteil greift die Fragestellungen anhand statistischer Messdaten aus der beschriebenen Studie wieder auf.
Startpunkt für Athletiktraining
Die objektive Bewertung der sportlichen Fertigkeiten ist für Athletiktrainer im Nachwuchsbereich aufgrund der großen interindividuellen Varianzen und fehlender objektiver Vergleichswerte oft schwierig. Wenn beispielsweise in einem Baseline-Screening Defizite in der reaktiven Kraftentwicklung im Dehnungs-Verkürzungs-Zyklus (DVZ) ermittelt wurden, können globale Referenzwerte eine ambitionierte Zielmarke und Motivation für die konkrete Trainingssteuerung sein:
Fall 1 – der Basketballtrainer “Ich betreue als Trainer unsere männliche U19 Basketball-Bundesliga-Mannschaft. Unsere Athleten ziehen bei spielentscheidenden Wiederabsprüngen nach verfehlten Korbwürfen gegen die Abwehr auffällig oft den Kürzeren, obwohl die Spieler eigentlich gute körperliche Voraussetzungen haben. Ich habe deshalb zusammen mit unserem Athletiktrainer ein Trainingsprogramm aufgesetzt, um gezielter an der reaktiven Sprungkraft zu arbeiten, frage mich aber, wie ich die Fortschritte objektiv nachvollziehen kann und vor allem, wie gut eigentlich die gegnerischen Mannschaften dastehen.” |
Startpunkt für Präventivmaßnahmen
Für die Identifikation von Verletzungsrisiken im Rahmen von Baseline-Screening ist es außerdem entscheidend, dass kritische Grenzen für Kennzahlen verfügbar sind und der Ist-Zustand der Athleten fortlaufend und reproduzierbar bestimmt werden kann. Im Nachwuchsbereich besteht durch die noch nicht vollständig gefestigten Bewegungsengramme die Möglichkeit, bei Fehlentwicklungen frühzeitig gegenzusteuern, um Verletzungsrisiken zu senken. Insbesondere können auffällige Unterschiede im links-rechts Vergleich bei unilateralen Tests, beispielsweise in der neuromuskulären Kontrollfähigkeit bei maximalen horizontalen Sprüngen, ein Grund für die Initiierung von Präventivmaßnahmen sein:
Fall 2 – der Tennistrainer “Ich bin Tennistrainerin und betreue aktuell den Damen-Nachwuchs in unserem Verein. Meine 17-jährige Spielerin entwickelt sich spielerisch und athletisch enorm weiter und könnte demnächst den Sprung in den DTB-Kader schaffen. Ich mache mir aufgrund der schnellen Entwicklung aber Gedanken über mögliche Verletzungsrisiken, gerade weil bei spontanen Sprüngen und Landungen beim Volley sowie bei Sprints mit intensiven Richtungswechseln die nicht-dominante Beinseite oft schwächer und gefährlich instabil wirkt. Um Schlimmeres zu vermeiden, versuchen wir jetzt, mit einbeinigen horizontalen Sprungtests gezielt zu isolieren, welche neuromuskulären Dysbalancen sich herausgebildet haben. Aber eine gewisse Asymmetrie gibt es ja immer, gerade bei Tennisspielern. Mich interessiert deshalb, ab wann es kritisch wird und wie meine Athletin im Vergleich dazu dasteht.” |
Startpunkt für Return-to-Sport
Die Mittelwerte einer Referenzkohorte können im Verletzungsfall als Zielgröße für die Return-to-Sport Phase dienen, wenn eigene Werte aus Baseline-Screenings fehlen. Das Fallbeispiel hierfür bezieht sich auf die Stabilität bei der Landung nach dem Balance Front Hop:
Fall 3 – der Physiotherapeut der Fußballmannschaft “Ich bin als Sportphysiotherapeut für unseren A-Jugend-Kader in der Fußball-Regionalliga zuständig. Mein 18-jähriger Athlet erlitt vor knapp 3 Monaten bei der einbeinigen Landung nach einem Sprung zum Kopfball mit Fremdeinwirkung eine Ruptur des vorderen linken Kreuzbandes, die sofort operativ mittels arthroskopischer Rekonstruktion versorgt wurde. Zwischen den Übungseinheiten zur Aufbelastung führen wir aktuell sportmotorische Tests mit Sensorsohlen durch, um die weitere Steigerung der Belastung besser steuern zu können. Beim Balance Front Hop fällt mir auf, dass die verletzte Seite nach der Landung noch nicht ausreichend stabilisiert werden kann. Allerdings erscheint mir auch die gesunde Seite nicht optimal als Referenz. Mich interessiert daher, wie vergleichbare gesunde Athleten abschneiden, damit ich in der Rehabilitation die posturale Kontrolle auf ein gutes Niveau bringen kann.” |
Studiendesign zur multifaktoriellen Referenzdatenbank
Die hier vorgestellte Studie wurde initiiert, um künftig allen Anwendern in der Sportpraxis Antworten auf die oben gestellten Fragen anbieten zu können. Ziel ist es, eine multifaktorielle Datenbank mit Referenzwerten zu den Outcomes der wichtigsten sportmotorischen Tests an den unteren Extremitäten aufzubauen. Multifaktoriell bedeutet in diesem Zusammenhang, dass das Studiendesign bezüglich der Inklusion von unterschiedlichen Sportarten und Leistungsklassen sowie bezüglich Geschlecht, Alter und Verletzungshistorie offen angelegt ist. Dadurch profitiert später eine Vielzahl an Sportarten von den Ergebnissen und es können auch Vergleiche zwischen den Sportarten angestellt werden.
Rahmenbedingungen, Studientyp und Population
Das Forschungsprojekt wird vom Bayerischen Staatsministerium für Wirtschaft, Landesentwicklung und Energie gefördert. Als Sportpartner zur Datenerhebung werden fortlaufend alle Organisationen zugelassen, die die Kriterien der Studie erfüllen. Dazu gehören bis dato unter anderem das Red Bull Athlete Performance Center, der Deutsche Skiverband sowie mehrere Olympiastützpunkte und zahlreiche Sportvereine in Europa und den USA. Die Datenerhebung für die Referenzwerte ist als explorative Querschnittsstudie angelegt, wobei in den Probandenpool aktuell alle weiblichen und männlichen Athleten ab Jahrgang 2009 (Ü15) und älter eingeschlossen werden, die eine Sportart unter Einbezug der unteren Extremitäten als Leistungssport ausüben und medizinisch für die jeweiligen Tests freigegeben sind. Ansonsten wurden keine Ausschlusskriterien festgelegt.
Messverfahren zur Bewegungsanalyse und für die Metadaten
Als Hauptmessmethode wird das System ReGo eingesetzt, das auf kabellosen Sensorsohlen basiert und Sensoren zur Bestimmung der plantaren Druckverteilung und Inertialsensoren mit Algorithmen zur Mustererkennung kombiniert. Dadurch können mit einem Messsystem sowohl kinetische Parameter (z.B. Sprungkraft) als auch zeitliche und kinematische Parameter (z.B. Bodenkontaktzeit und Sprungweite) standardisiert und automatisch bestimmt werden. Zur weiteren Steigerung der Validität für die hochdynamischen Bewegungen wurde die Messfrequenz von 100 Hz auf 200 Hz erhöht, sowie ein verbessertes Verfahren zur Kalibrierung eingeführt (6).
Als Vergleichssystem zur Bestimmung von Distanzen (z.B. Sprungweite) kommt in der Studie das optische 3D-Bewegungsanalysesystem OpenCap der Stanford University, USA, zum Einsatz. Das System benötigt für die Aufnahmen lediglich drei Smartphone-Kameras. Die verwendeten Bildraten betragen 120 Hz oder 240 Hz, abhängig vom Testtyp. Für künftige Endanwender im Leistungssport entfällt die Notwendigkeit zur Videoanalyse wieder.
Zur Erhebung von Metadaten wie Alter, Geschlecht, Gewicht und Verletzungshistorie wird ein digitaler Fragebogen verwendet. Die oft fehleranfällige manuelle Erfassung von Messwerten oder Zählen von Wiederholungen entfällt durch die automatisierte Bewegungsanalyse komplett. Insgesamt steht damit ein gut kontrollierter, valider Messplatz mit reproduzierbaren Testbedingungen für den mobilen Einsatz in Turnhallen oder im Freien zur Verfügung (Fig-1).
Testprotokoll für die Datenerhebung
Alle Athleten durchlaufen für die Datenerhebungen ein festgelegtes Protokoll, das einen Fragebogen zu Metainformationen, ein Aufwärmprogramm, die Kalibration der Messverfahren sowie insgesamt sieben sportmotorische Tests beinhaltet. Mit Bezug auf die drei Fallbeispiele werden jedoch nur die folgenden Tests herangezogen (Tab-1).
Test | Purpose |
---|---|
Drop Jump | Startpunkt für Athletiktraining |
Single Leg Jump Distance | Startpunkt Prävention |
Balance Front Hop | Startpunkt Return-to-Sport |
Die Vorgabe an die Athleten ist, alle Tests in maximaler bzw. optimaler Form auszuführen. Der Drop Jump Test wurde für das Basketball-Fallbeispiel ausgewählt, um die schnelle Kraftentwicklung zu testen (7). Der Single Leg Jump Distance Test wurde aufgrund der Relevanz für seitenspezifische, maximale neuromuskuläre Kontrolle ausgewählt (8). Schließlich ist der Balance Front Hop ein etabliertes Verfahren zur funktionalen Testung der Beinachsenstabilität nach Kreuzbandverletzungen (9).
Primäre Testzwecke des Drop Jump Tests (Fig-2) sind Plyometrie und Reaktivkraft. Die Startposition bildet eine erhöhte Plattform. Ein Bein wird dabei hängen gelassen. Nun vollzieht man den beidbeinigen Drop mit maximalem vertikalen Rebound. Nach der Landung befindet sich die Testperson in Standposition. Primäre Testziele sind die minimale Bodenkontaktzeit und die maximale Sprunghöhe.
Primäre Testzwecke des Single Leg Jump Distance Tests (Fig-3) sind Explosivkraft und Landequalität sowie ein links/rechts Vergleich. Startposition ist der Einbeinstand. Nun folgt ein maximaler horizontaler Absprung. Die Landeposition wird gehalten. Die gleiche Ausführung gilt für beide Beine. Primäre Testziele sind die maximale Sprungweite und eine stabile Landung.
Primäre Testzwecke des Balance Front Hop Tests (Fig-4) sind die Kontrolle der Beinachse sowie ein links/rechts Vergleich. Startposition ist der Einbeinstand. Nun folgt ein submaximaler horizontaler Hop mit definierter Hop-Weite. Die Landeposition wird gehalten. Die gleiche Ausführung gilt für beide Beine. Primäre Testziele sind eine schnelle Stabilisierung nach der Landung und geringere Ausgleichsbewegungen.
Bessere Vergleichbarkeit durch Standardisierung
Der Wert von Referenzdaten steht und fällt mit der Vergleichbarkeit zu solchen Daten, die in der Sportpraxis erhoben werden. Nur ein hohes Maß an Standardisierung ermöglicht später sinnvolle Vergleiche zwischen unterschiedlichen Athleten. Die Datenerhebung für die Referenzdaten erfolgt deshalb unter strikten Vorgaben zur Bewegungsausführung.
Dies betrifft insbesondere die Position der Arme bzw. Hände. Um die Abhängigkeit der Ergebnisse von der Anthropometrie des Oberkörpers unabhängiger zu machen und damit Kraft und neuromuskuläre Kontrolle in den unteren Extremitäten besser zu isolieren, sollen die Hände während der Testausführung in die Hüfte gelegt werden (10). Unter Inkaufnahme der beschriebenen Limitation wird bei vielen Sprung- und Hop-Tests in der Praxis abweichend davon oft die freie Armhaltung favorisiert.
Testbeschreibungen und Bewegungssequenzen
Zusammenfassend wurden folgende Vorgaben für die drei sportmotorischen Tests verwendet (Tab-2).
Standardisierungsmerkmal | Spezifikation |
---|---|
Handposition | Hände ruhen während der Testausführung in den Hüften |
Haltphasen | 3 Sekunden Haltephase nach Landungen |
Wiederholungen | 3 Wiederholungen pro Test oder pro Bein |
Drop Jump Fallhöhe | 30 cm Plattformhöhe |
Balance Front Hop Distanz | 40 cm Hop-Distanz |
Die Bewegungssequenzen, eine Kurzbeschreibung für die Tests sowie sonstige Instruktionen und Countdowns zum Start oder zu Haltezeiten werden durch die Verwendung App-gesteuerter visueller und akustischer Instruktionen vermittelt.
Ergebnisse und Diskussion für den Nachwuchsleistungssport
Die hier präsentierten Ergebnisse sind aufgrund der noch laufenden Datenerhebungen als vorläufig zu betrachten. Durch die noch begrenzte, jedoch bzgl. Alter und Leistungsniveau recht homogene Athleten- Population (Fig-3), und durch Feinabstimmungen zur Berechnung der Kennzahlen, können sich noch Veränderungen ergeben. Auch muss erwähnt werden, dass eine vollständige posturale Kontrolle, z.B. der vertikalen Körperachse beim Balance Front Hop, allein durch die Messung mittels Sensorsohlen nicht möglich ist und zusätzliche Bewertungen der Betreuer oder Therapeuten einfließen müssen. Dennoch ergeben sich aus den Messdaten bereits einige interessante Erkenntnisse.
Athleten # | Alter Ø | SD | Größe Ø | SD | Gewicht Ø | SD | |
---|---|---|---|---|---|---|---|
Bevölkerung | 88 | 19.1 | 3.8 | 174.5 | 28.4 | 70.2 | 11.7 |
Basketball | 21 | 19.7 | 5.0 | 188.3 | 7.0 | 79.8 | 11.0 |
Tennis | 12 | 17.7 | 2.1 | 176.8 | 7.2 | 68.3 | 8.2 |
Fußball | 34 | 18.0 | 1.4 | 177.6 | 10.4 | 68.8 | 9.8 |
Leistungsniveau | Anteil Gesamtbevölkerung (%) |
---|---|
No indication | 1.1 |
Amateur | 2.3 |
Semi-Professionell | 11.4 |
Juniorteam (professionelles Niveau) | 77.3 |
Professionell | 8.0 |
In allen drei Fallbeispielen wurden zunächst initiale biomechanische Messwerte für den jeweils verwendeten Test hinterlegt, um den Ist-Zustand zu dokumentieren und die Defizite der Athleten sichtbar zu machen (Fig-5a-c). Für Fallbeispiel 1 ist das Ergebnis eines exemplarischen Athleten des Kaders dargestellt. Zu Vergleichszwecken steht dem jeweils ein gutes bis sehr gutes Messergebnis gegenüber, das auch aus einer anderen Sportart stammen kann. Die Definition der Ergebnis-Kennwerte erfolgt im Rahmen der statistischen Auswertung der Referenzwerte (Tab-5).
Referenzwerte für das Athletiktraining
Greift man nun die magere Reaktivkraft in Fallbeispiel 1 auf (Fig-5a), so können wir dem Trainer der U19 Basketball-Mannschaft im Bezug auf die Referenzwerte (Tab-5, blaue Werte) folgendes aufzeigen:
- Der maximale Wert für den Reactive Strength Index (RSI) der gleichen Sportart (Basketball) liegt mit 1,64 deutlich höher als der initiale Messwert des exemplarischen Athleten im Fallbeispiel mit 0,82. Der eigene Spieler liegt also unter dem Durchschnitt der Vergleichsgruppe Basketball.
- Der absolute Maximalwert des RSI der übrigen Studienpopulation liegt mit 2,99 sogar um den Faktor 3,64 über dem initialen Messwert. In anderen Sportarten scheint die Reaktivkraft also deutlich höher zu sein.
Die Ergebnisse überraschen auf den ersten Blick. Bedenkt man aber, dass viele Sprung-Situationen im Basketball aus bodennaher Ausgangslage mit vorausgegangener Kompressionsphase entstehen, so werden die Ergebnisse plausibel. Im Vergleich mit der typischen Körperhaltung bei Reaktivsprüngen im Fußball wird dies besonders deutlich (Vid-1). Allerdings gibt es durchaus spielentscheidende Situationen, in denen ein hohes Maß an Reaktivität gefordert ist. Der Drop Jump Test wird deshalb auch in den Profiligen als Leistungstest eingebunden (11). Dem Nachwuchs-Trainer kann empfohlen werden, durch gezieltes plyometrisches Training das Reaktivkraft-Niveau seiner Athleten anzuheben und hierfür eventuell Trainingsformen aus dem Fußball zu integrieren.
Referenzwerte für die Prävention
In Fallbeispiel 2 der jungen Tennisspielerin wurden die Asymmetrien bezüglich der Stabilität bei der Landung und der absoluten Sprungweite in der initialen Messung deutlich (Fig-5b). Die Referenzwerte können der Trainerin wiederum folgende Anhaltspunkte zur Intervention geben (Tab-3, Zeilen 2/3, markierte Zellen):
- Die besten Werte für die maximale Sprungweite mit 0,690m sowie für die minimale Balance Sway Area mit 2,8% (je kleiner der Wert, desto besser) in der Vergleichsgruppe Tennis liegen im Vergleich mit der übrigen Studienpopulation im Spitzenfeld.
- Die individuellen Ergebnisse der Athletin für die Sprungdistanz und die Sway Area des nicht-dominanten Beins fallen mit mit 0,584m und 17,0% gegenüber den Mittelwerten der Vergleichsgruppe (0,613m, 8,3%) deutlich ab.
- Das dominante Bein zeigt mit 0,640m eine außergewöhnlich gute Sprungkraft und mit 3,3% Sway Area eine gute Stabilisierung bei der Landung.
Ein Vergleich mit spezifischen Trainingsmethoden anderer Sportarten bietet sich zunächst nicht an. Im Hinblick auf Verletzungsprävention sollte die Trainerin aktiv werden und mit dynamischen Stabilisierungsübungen für das nicht-dominante Bein intensiv an einer Normalisierung der Situation arbeiten, um das Risiko einer Kreuzbandruptur bei dynamischen Richtungswechseln zu verringern. Die im initialen Test verwendeten einbeinigen Sprünge selbst stellen eine gute Trainingsform hierfür dar. Sofern das Leistungsniveau wie geplant weiter ansteigt, sollten regelmäßig Re-Tests durchgeführt werden, um den Fortschritt zu kontrollieren.
Referenzwerte für Return-to-Sport
Der 18-jährige Fußballspieler aus Fallbeispiel 3 zeigt im Balance Front Hop Test der initialen Messung für das von der Kreuzbandruptur betroffene Bein im Vergleich zum gesunden Bein deutliche Instabilität (Fig-5c). Im Vergleich mit den Referenzwerten lässt sich wie folgt konkretisieren (Tab-3, Zeilen 4/5, markierte Zellen):
- Das gesunde rechte Bein liefert für die Sway Area mit 3,1% gute Ergebnisse. Der mittlere Referenzwert liegt bei 6,1%.
- Das verletzte Bein liegt mit einer Sway Area von 12,2% sehr deutlich über dem akzeptablen mittleren Referenzwert.
- Im Zeitverlauf der 3-sekündigen Haltephase nach der Landung kann keine Stabilisierung, also keine Erfüllung der Mindestanforderung für die Stabilization Progression, erreicht werden. Im Mittel erreichen Athleten der Vergleichsgruppe nach 1,15s eine stabile Position.
Beim gesunden Bein besteht also hinsichtlich der funktionalen Stabilität am Kontaktpunkt Fuß, entgegen dem Verdacht des Physiotherapeuten, kein Handlungsbedarf. Das verletzte Bein erfüllt die Testkriterien für die weitere Aufbelastung hinsichtlich Stabilität noch nicht. Der Physiotherapeut sollte zunächst eine Stufe niedriger mit der Belastungssteigerung ansetzen, z.B. durch einbeinige Kniebeugen, und anschließend mit sub-maximalen dynamischen Stabilisierungsübungen fortfahren.
Ausblick für die Sportpraxis
Die Fallbeispiele geben einen ersten Eindruck von den Möglichkeiten, die sich Betreuern und Athleten durch den Aufbau der Referenzdatenbank künftig eröffnen. Im Verlauf der Studie sollen insgesamt rund 1000 Athleten eingeschlossen und weitere sportmotorische Tests und Agilitäts-Tests integriert werden, wie z.B. ein variabler Sprint-Test und der 505-Agilitäts-Test. Dadurch können in der Sportpraxis wichtige Bereiche der Athletenbetreuung, von der Gangschule und Aufbelastung nach Verletzungen über die koordinative Ausbildung und Kraftaspekte, bis hin zu hochdynamischen Lastwechseln, Sprints und Agilität, abgedeckt werden. The shown results are the beginning of a long journey that will gradually enable all youth sports coaches to optimally support their athletes and involve the athletes more through easier access to testing methods. Wenn es gelingt, die beschriebenen Spannungen mit ausreichend validen, flexiblen und kostengünstigen biomechanischen Testmethoden zu lösen, ergeben sich für die Zukunft des Leistungssports erhebliche Chancen.
Literaturverzeichnis
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2. Ziegler, R., Müller, M. 2022. Trainingsprofi im Schuh – Sensoren zur Objektivierung von Testungen im Leistungssport. pt Zeitschrift für Physiotherapeuten. 74: 18-27
3. Hauke, D., et al. Biomechanische Baseline-Testungen. Sportärztezeitung. URL: https://sportaerztezeitung.com/rubriken/training/6249/biomechanische-baseline-testungen (entnommen am 29.04.2023)
4. VBG 2015. Präventivdiagnostik für den bezahlten Sport – Testmanual zur Präventivdiagnostik im Rahmen des VBG Prämienverfahrens. Hamburg: VBG
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8. Janewanitsataporn, S. 2020. The Functional Tests after ACL Reconstruction with and without Meniscal Repair. JHSMR. 38(2):
9. VBG 2015. Return-to-Competition – Testmanual zur Beurteilung der Spielfähigkeit nach Ruptur des vorderen Kreuzbands. Hamburg: VBG
10. Laffaye, G., et al. 2006. Upper-limb motion and the drop jump: Effect of expertise. J. Sp. Med. Phys. Fit. 46, 2: 238-247
11. Bobbert, M. 1990. Drop Jumping as a Training Method for Jumping Ability. Sports Medicine. 9: 7-22